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Die Vision, bereits mit 40 in den Ruhestand zu gehen, ist verlockend. Raus aus dem Arbeitstrott zu kommen, frei von alltäglichen Zwängen zu sein und endlich Zeit für die schönen Dinge des Lebens zu haben, klingt paradiesisch. Der Blick auf den Kontostand und das magere Sparschwein lässt den Traum meistens platzen. Finanzielle Unabhängigkeit? Pustekuchen! Wenn es für die Rente mit 67 reicht, kann man froh sein. Die FIRE-Bewegung will einen Ausweg aus der Misere gefunden haben. Ihre Devise: Verzicht lohnt sich für einen frühen Ruhestand. Erreicht werden soll das Ziel, indem der größte Teil des Einkommens gespart und gewinnbringend angelegt wird. Hört sich utopisch an? Nicht unbedingt. Wir haben uns die FIRE-Bewegung und ihre Sparmethode angesehen und zeigen Dir, welche Optionen es gibt.
Die Abkürzung FIRE steht für "Financial Independance, Retire Early", was ins Deutsche übersetzt bedeutet: Finanzielle Unabhängigkeit, vorzeitig in den Ruhestand gehen. Entstanden ist die Idee in den 1990ern in den USA durch das Buch "Your Money or Your Life: Nine Steps to Transforming Your Relationship with Money and Achieving Financial Independence" von Vicki Robin und Joe Dominguez. Die Vorgeschichte, die Wikipedia über das inzwischen zum Bestseller avancierte Buch berichtet, ist höchst interessant: Robin, 1945 in Oklahoma geboren, versuchte sich in ihren frühen Zwanzigern als Schauspielerin in diversen Vorabendserien, war jedoch schnell frustriert von diesem Job. Statt weiter zu arbeiten, reiste sie - dank eines üppigen Schecks ihrer Großmutter über 20.000 Dollar - für mehrere Monate durch die USA und Mexiko, wo sie Joe Dominguez traf, einen ehemaligen Finanzanalysten von der Wall Street, der mit nur 31 Jahren finanziell bereits so gut gestellt war, dass er es sich leisten konnte, im Ruhestand zu sein. Gemeinsam überlegten sie, wie auch Robin es anstellt, nie mehr arbeiten zu müssen, trotzdem finanziell unabhängig zu sein und die gewonnene Lebenszeit dafür zu nutzen, sich für die Umwelt zu engagieren und karitative Projekte zu unterstützen. Auf großem Fuß zu leben, kam da nicht in Frage, was ohnehin nicht ihr Ding war. Zudem legte sie den größten Teil ihres Geldes lukrativ an, damit sie aus den Erträgen die laufenden Kosten bestreiten konnte. Aus den Erfahrungen, vor allem im Umgang mit Geld und Geldanlagen, machten die beiden besagten Topseller, der 1992 in den USA erschien und unter dem Titel "Mehr Geld für mehr Leben: Wie Sie in neun Schritten Ihre Beziehung zum Finanziellen ändern - und früher in Rente gehen können" auch hierzulande ein Verkaufsschlager ist. Soweit ein Blick zurück.
Inzwischen ist daraus die FIRE-Bewegung entstanden. Im Alltag deren Anhänger ist Sparsamkeit oberstes Gebot. Dementsprechend minimalistisch ist der Lebensstil von FIRE-Bewegten. Shoppen gehen, kostspielige Urlaubsreisen, teure Restaurantbesuche - ist alles Tabu. Stattdessen wird mit Bedacht konsumiert. Der rigorose Verzicht stellt keine Einschränkung für sie dar, sondern wird bewusst für das höhere Ziel in Kauf genommen, möglichst früh in Rente gehen zu können. Davon tangiert ist auch die Vorstellung von Wohnen und Besitzen. Zwar ist der Trend zum Wohnen im Tiny House und zum Teilen von Dingen nicht explizit von der FIRE-Bewegung inspiriert, geht aber in dieselbe Richtung: Wer sich von Überflüssigem trennt, hat mehr vom Leben. Beispielhaft für dieses Motto ist etwa der Lebensstil des Amerikaners Michael Kelly Sutton, der 2010 zum "Cult of Less" aufrief, der sich von materiellem Besitz abkoppelt. Die Idee des damals 23-jährigen Softwareingenieurs beruht auf der Erfahrung, dass er sich, nachdem er von einer längeren Weltreise zurückgekehrt war, kaum noch an die Dinge erinnerte, die er bei Freunden eingelagert hatte. Sein Fazit: So wichtig konnten die Sachen nicht sein. Warum sich also nicht grundsätzlich von ihnen trennen und dafür mobil sein, reisen können, befreit von Dingen, deren Nutzung, Lebensdauer und Umweltverträglichkeit ohnehin fragwürdig ist? Bis auf einige Kleidungsstücke, Bett und Schrank reduzierte er seine gesamte Habe. Alles Wichtige befand sich in seinem Laptop. Auch wenn das "Projekt", wie Sutton seine Trennung von Überflüssigem bezeichnet, inzwischen beendet ist und er mit "Freundin und Waffeleisen" in San Francisco relativ konventionell lebt, hat er viele Menschen angeregt, es ihm gleich oder ähnlich zu tun.
In Deutschland ist die Finanzphilosophie der FIRE-Bewegung ein junges Phänomen. Gleichwohl hat Sparsamkeit auch hierzulande eine lange Tradition. Die weltweit erste Sparkasse wurde 1778 in Hamburg gegründet. Allerdings ist das Sparen - damals wie heute - vor allem davon geprägt, für schlechte Zeiten vorzusorgen, und geschieht weniger - wie bei der FIRE-Bewegung - in Erwartung einer positiven, selbstbestimmten Zukunft durch maßvolles Verhalten gepaart mit gewinnbringender Geldanlage. Historisch betrachtet war dieses Vorsorgeprinzip sinnvoll, plagten die Menschen in früheren Jahrhunderten doch Hungersnöte und Missernten, sodass das Ersparte als Notgroschen diente. Heute führt das Festhalten an dieser risikoaversen Sparmethode jedoch dazu, dass sich die Bundesbürger angesichts von Niedrig- und sogar Minuszinsen sowie einer demnächst womöglich zweistelligen Inflationsrate buchstäblich arm sparen: Allein in 2019 verlor jeder Bundesbürger laut einer Untersuchung der Universität Marburg durchschnittlich 380 Euro, weil die Ersparnisse auf Giro- und Tagesgeldkonten sowie in Termin- und Spareinlagen deponiert sind. Zwei Jahre später ist der Wertverlust beinahe viermal so hoch, ermittelte unlängst die DZ Bank, und liegt in der Pro-Kopf-Entwertung im Mittel inzwischen bei fast 1.400 Euro pro Jahr.
Für FIRE-Anhänger wäre das undenkbar. Sie sind weitblickende Sparfüchse und kalkulieren kühl. Neben einem eisern geführten Haushaltsbuch, in das jede Ausgabe penibel eingetragen wird, dreht sich alles um die persönliche FIRE-Zahl, die aussagt, wie viel Geld gespart und lukrativ investiert werden muss, bis es sich allein vom Ersparten leben lässt. Die Formel dazu lautet: Jahresausgaben in Euro mal Anzahl der Jahre bis zum Ruhestand. Als Faustregel gilt, dass die Sparsumme beim 25-fachen der jährlichen Ausgaben liegen sollte. Außerdem gilt die 4 Prozent-Regel, die besagt, dass so viel Geld auf die hohe Kante zu legen ist, dass eine jährliche Rendite von 4 Prozent ausreicht, um die laufenden Kosten zu decken. Darüber hinaus wird die Inflationsrate eingepreist plus 25 Prozent Abgeltungssteuer. Abhängig vom monatlichen Wunschbetrag, dem bereits vorhandenen Kapital, dem Lebensalter zur Zeit der Berechnung und dem angestrebten Renteneintrittsalter, kann sich das zusätzlich benötigte Kapital im sechs- oder siebenstelligen Bereich bewegen, das durch geschicktes Investieren angespart werden muss, um arbeitsfrei leben zu können. Aufgrund der meist sehr hohen Sparsumme bemängeln Kritiker der FIRE-Bewegung, dass sich das Konzept von der Rente mit 40 nur für Bezieher hoher Einkommen eignet, nicht aber für Normalverdienende. Zudem geht der Schweizer Ökonom und Glücksforscher Mathias Binswanger davon aus, dass wer jetzt spart und nur auf das Geld aus ist, glaubt, das Glück in die Zukunft verschieben zu können, was nur selten funktioniere. Die Tatsache, dass die Deutschen oftmals falsch, also unrentabel, sparen, nämlich per Sparbuch, obwohl es bessere Geldanlagemöglichkeiten gibt, und dass das Sparverhalten grundsätzlich überdacht werden muss, wird indes weniger thematisiert. Dabei schlummern rund zwei Billionen Euro auf Giro- und Tagesgeldkonten.
Wer sich dem strengen Spardiktat nicht gänzlich unterwerfen möchte, für den ist Barista FIRE eine mögliche Alternative. Diese Spielart von FIRE sieht vor, einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen, statt sich generell aus dem Arbeitsleben zu verabschieden. Der Vorteil dieser Variante ist, dass man einerseits mehr Freizeit hat und andererseits die Sparsumme moderater ausfällt. Zudem wird in die gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt, sofern es sich um eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit handelt. Ein weiteres Plus sind die Beitragszahlungen in die Rentenkasse, was auch noch einen finanziellen Puffer bringt. Der Nachteil dieser Sparmethode ist, dass sich der Eintritt in den Ruhestand dadurch nach hinten verschiebt. Das Sparen auf die Spitze treibt Fat FIRE. Hierbei wird bis zu 75 Prozent des monatlichen Einkommens gespart und angelegt. Je risikoreicher das Kapital investiert wird, um so höher ist die Chance auf eine ordentliche Rendite. Diese Option dürfte jedoch nur für die Wenigsten in Frage kommen, außer man hat bereits eine beträchtliche Summe auf der hohen Kante, die gewinnbringend angelegt werden kann oder ist in der Lage, seine Ausgaben auf ein Minimum zu reduzieren, was in größeren Städten, wo nicht selten allein für die Miete rund 40 Prozent des Einkommens aufzuwenden sind, schwer fallen dürfte. Bei der Variante Lean FIRE steht im Vordergrund, die Ausgaben zu senken, und nicht striktes Sparen und rentierliches Anlegen oder das Arbeiten aufzugeben. Diese maßvolle Variante kann vielleicht als Einstieg in FIRE dienen, um zunächst ein Gefühl für den Umgang mit Geld zu bekommen.
Welches Konzept das richtige ist und ob die Finanzphilosophie der FIRE-Bewegung überhaupt für die eigene Lebensplanung taugt, muss jeder für sich entscheiden. Einen wertvollen Impuls, über den Umgang mit Geld nachzudenken, gibt die Beschäftigung mit der FIRE-Bewegung auf jeden Fall. Überdies schärft das den Blick für Sparmethoden und das eigene Sparverhalten. Was heißt sparen? Was bedeutet es, Geld zu investieren? Welche Investmentmärkte gibt es und wie funktionieren sie? Warum ist das Eingehen von Risiken per se nicht schlecht und wie lernt man sie einzuschätzen?
So gesehen, legt die FIRE-Bewegung den Finger in eine brennende Wunde. Denn Millionen Euro auf Sparbüchern und Girokonten warten darauf, gewinnbringend investiert zu werden - ob für die Rente mit 40 oder für andere Zwecke.