Für die Deutschen ist das Sparbuch immer noch mit großem Abstand die beliebteste Geldanlage (56 %, VuMA 2020). Es scheint, als würden Meldungen über die steigende Inflation und das weitere Sinken der Zinsen kaum zum Umdenken bei den Bürgern führen.
Eine aktuelle Meldung zeigt zudem, dass sogar die Strafzinsen inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: “Zinsen auf Tagesgeld sind erstmals im Durchschnitt negativ.”
Dabei ist aus dem tradierten “Sparen” schon viel länger ein “Verlieren” geworden: Durch die Kombination aus Niedrigzinsen bzw. Nullzinsen und Inflation verliert der klassische Sparbuch-Deutsche bereits seit Jahren effektiv Geld. Im Laufe der Geschichte des Sparens sind wir nun eigentlich an einem Tiefpunkt.
Höchste Zeit, würde man denken, etwas zu verändern. Doch wie eine neue Studie zeigt, wollen viele ihr Anlageverhalten beibehalten und setzen nach wie vor auf das “altbewährte” Sparen.
Warum ist das so? Gibt es dafür auch wissenschaftliche Erklärungen? Wir haben mit dem Sozialpsychologen Prof. Dr. Hans-Peter Erb von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg dazu gesprochen. Er beschäftigt sich mit den Fragen zum menschlichen Denken, Fühlen und Verhalten.
Im Gespräch wird klar, dass wir deutlich emotionaler entscheiden als es uns recht sein dürfte. Und warum es sinnvoll sein kann, sein Verhalten hin und wieder auf die Probe zu stellen.
Prof. Erb: Das ist schon ein interessantes Phänomen. Wir können in der Sozialpsychologie das Verhalten von Menschen analysieren und Erklärungen finden. Wie oft bei komplexen Phänomenen gibt es auf Ihre Frage keine einzelne Antwort. Vielmehr gibt es eine Reihe von psychologisch relevanten Faktoren, die dazu beitragen, dass Negativzinsen weiterhin akzeptiert werden.
Unwissenheit schützt vor Strafzinsen nicht
Ein eher “simpler” Grund liegt sicher in der Unwissenheit vieler Menschen (Anm. d. Red.: Das ergab auch eine Umfrage zum Thema). Es gibt viele Menschen, die den Zinseszinseffekt entweder einfach nicht kennen oder seine Wirkung auf ihre langfristigen Geldanlagen unterschätzen. Dabei zählt so etwas noch zum Basiswissen über Finanzen und Geldanlage. Die Aufklärung über das Finanz- und Geldanlagewesen ist in jedem Fall noch ausbaufähig.
Trägheit: Der Default-Effekt
Ein zweiter Punkt ist ein rein psychologischer: In vielen Situationen können wir eine gewisse Trägheit bei Menschen beobachten. Man spricht auch vom Default-Effekt. Das heißt, eine Person, die sich für etwas entscheiden könnte, bleibt beim Default, bei der Werkseinstellung, wenn man so will. Nehmen wir das bekannte Beispiel Organspende: In Deutschland ist der Default, dass man aktiv werden muss, um seine Organe zu spenden. In anderen Ländern ist der Default die sogenannte Widerspruchsregelung. In diesen Ländern ist der Anteil an Organspendern – wenig überraschend – signifikant höher. Oder überprüfen Sie doch einmal daraufhin kritisch die Einstellungen Ihres Smartphones.
In Bezug auf Geldanlagen ist der Default in Deutschland noch immer das klassische Sparbuch bzw. das Tagesgeldkonto, also das, was sich über viele Jahrzehnte als Gewohnheit etabliert hat. Eine Investition in eine alternative Anlageklasse erfordert ein Umdenken, das Anstrengung erfordert und den Menschen nicht immer leichtfällt.
Überforderung durch die Qual der Wahl
Der dritte Grund schließt gewissermaßen an das Thema Trägheit an. Die schier unendliche Auswahl an Möglichkeiten überfordert viele Menschen, wie vielleicht am deutlichsten beim Konsumverhalten zu beobachten ist. Das kann ich persönlich sehr gut nachvollziehen, denn auch ich wäre den ganzen Tag beschäftigt, wenn ich bei jeder einzelnen Kaufentscheidung zwischen allen Optionen Vergleiche anstellen würde, um schließlich das zu 100 % beste Ergebnis zu erzielen. Was ist der beste Mobilfunkvertrag? Von welchem Lieferanten beziehe ich Gas, Strom und Wasser? Und bezogen auf Ihre Frage: Wohin mit dem Geld auf dem Sparbuch? Immobilien, Fonds, Aktien, Gold? In der Folge bleiben wir ebenso bei einem vielleicht suboptimalen Mobilfunkvertrag hängen wie beim Sparbuch.
Das Bild der Banken
Was wir ebenfalls nicht außer Acht lassen dürfen, ist das Bild, das Anlegerinnen und Anleger nach wie vor von den Banken besitzen. Trotz Krisen und der genannten schlechten Performance von Spareinlagen genießen Banken einen Vertrauensvorschuss bei vielen Menschen. Sie werden sogar oft noch als quasi „öffentliche Institutionen“ wahrgenommen, obwohl sie selbstverständlich ökonomisch handeln. Es gab früher den Begriff des „Bankbeamten“, diese Vorstellung sitzt bei einigen Menschen noch im Hinterkopf und das Bild dahinter wurde an die nachfolgenden Generationen zum Teil auch weitergegeben.
Abstrakt versus konkret
Ein weiterer Grund dafür, warum Menschen selbst bei hohen Geldeinlagen nicht immer rational entscheiden, liegt darin, dass Zahlen auf dem Konto etwas sehr Abstraktes sind. Wir kennen die Wirkung abstrakter Zahlungen schon vom Unterschied zwischen Bar- und Kartenzahlung. Bargeld ist „greifbarer“ und konkret fehlt am Ende des Tages der eine oder andere Geldschein in Ihrem Geldbeutel. Eine Abbuchung vom Girokonto tut dagegen vergleichsweise weniger weh. Entsprechend sind wir alle verleitet, bei Kartenzahlung mehr Geld auszugeben als bei Barzahlung.
Negativzinsen oder Strafzinsen sind in diesem Sinne ebenfalls abstrakt, man bemerkt sie nur bei genauem Hinsehen auf seinem Konto. Und doch verursachen sie reale Kosten. Sie können sich den Unterschied zwischen abstrakt und konkret leicht klarmachen, wenn Sie sich vorstellen, jeden Monat würde jemand bei Ihnen an der Haustür klingeln und 0,5 % Ihres Kapitals auf dem Sparkonto in bar kassieren. Ich bin sicher, dass viele Menschen auf diese konkrete Situation ganz anders reagieren würden als auf die abstrakte Abbuchung vom Konto.
Verlustaversion: Die Prospect Theory
Eine sehr spannende Erklärung kann man auch aus der Prospect Theory ableiten. Die Theorie geht auf den Psychologen Daniel Kahneman zurück, der 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Ein Teil dieser Theorie beschreibt, dass die subjektive Reaktion auf Verluste größer ausfällt als die Reaktion auf Gewinne. Vereinfacht gesagt ärgern wir uns mehr über einen Verlust als wir uns über einen gleich großen Gewinn freuen. Die Anwendung der sich daraus ergebende Verlustaversion auf Strafzinsen mag zunächst paradox erscheinen. Jedoch bedingt die Furcht vor möglichen Verlusten, dass Menschen dazu tendieren, den „Status quo“ beizubehalten. Also: Bevor ich das Risiko einer schlechten Entscheidung eingehe, treffe ich lieber gar keine und bleibe beim augenblicklichen Zustand.
Ich würde nicht so weit gehen und Negativzinsen als gesellschaftliches Problem sehen. Da Geldanlagen aber auch mit der Altersvorsorge vieler Menschen verbunden sind, könnte sich auf lange Sicht eine gesellschaftliche Herausforderung daraus entwickeln.
Was man sicherlich festhalten kann: Wenn sich die Nachfrage nach alternativen Anlageklassen nicht ändert, also Spareinlagen weiterhin so stark genutzt werden wie bisher, obwohl die Renditen nicht vorhanden oder sogar negativ sind, gibt es natürlich auch wenig Anreiz, dies von Seiten der Kreditinstitute und der Zentralbanken zu ändern. Das heißt auch, dass die Hürde für die Banken sicherlich nicht größer wird, die Negativzinsen in Zukunft womöglich noch weiter zu erhöhen.
Meiner zum Teil kritischen Betrachtung des Anlageverhaltens möchte ich hinzufügen, dass Geldanlegen auch ganz wesentlich etwas mit dem eigenen Wohlbefinden zu tun hat. Ich persönlich vergewissere mich immer, ob ich mich mit meiner Anlageentscheidung auch auf Dauer wohlfühlen kann. Hierbei spielen mein Verständnis für die Anlage selbst sowie für mögliche Risiken neben den Renditechancen eine entscheidende Rolle. Das Wichtigste ist, dass ich mit der gewählten Anlage auch gut schlafen kann. Und so handle ich auch.
Prof. Erb hält die Professur für Sozialpsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und arbeitet mit seinem Team zu den Themen Persuasion, Urteilsbildung und Sozialer Einfluss. Er war lange Jahre Herausgeber von internationalen Fachzeitschriften zur Sozialpsychologie und ist ein gefragter Experte zu sozialpsychologischen Fragestellungen. Auf seinem YouTube-Kanal „Sozialpsychologie mit Prof. Erb“ präsentiert er Einblicke in die Inhalte seiner Wissenschaft im Hinblick auf alltägliche Phänomene.